Empörungsbereitschaft und -abwehr nach dem 7. Oktober
22. Januar 2025 | 19:00 – 21:30
Präsentatoren: KIWi – Kritische Intervention Wiesbaden
Dass man die Funktionsweise und die Tragweite des Antisemitismus nicht verstehen kann, wenn man sich in dessen Analyse allein auf die kognitiven Vorurteilsstrukturen beschränkt, ist in der Forschung inzwischen weitestgehend anerkannt. Es wird darauf verwiesen, dass anschließend an Sartres Rede vom Antisemitismus als „Weltanschauung und Leidenschaft“, auch dessen emotionale Seite berücksichtigt werden müsse.
In diesem Kontext bisher wenig erforscht, ist die Rolle sogenannter „moralischer Gefühle“. Zu diesen zählt neben Schuld und Groll auch das Gefühl der Empörung, das in der Moralphilosophie als stellvertretendes Gefühl definiert wird. Was es für Opfer von Verbrechen bedeutet, wenn sich ihre Mitmenschen über das ihnen Angetane nicht empören, beschreiben u.a. Hannah Arendt, Primo Levi oder Jean Amery nach der Shoah eindrücklich. Und auch nach den antisemitischen Massakern der Hamas vom 7. Oktober 2023 beklagen Jüdinnen und Juden eine weit verbreitete emotionale Regungslosigkeit.
Gleichzeitig lässt sich nach dem 7. Oktober – gerade in linken Kreisen – eine enorme und geradezu intuitive Empörungsbereitschaft angesichts der israelischen Reaktion auf den Angriff der Hamas beobachten. Dabei geht es jedoch nicht immer um echte und notwendige Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung. Stattdessen dient Antisemitismus schon immer als identitätsstiftendes, kollektives Empörungs-Angebot, das moralische und emotionale Eindeutigkeit verspricht. Diese Gleichzeitigkeit von Empörungsverweigerung und Empörungsbereitschaft, die der Antisemitismus provoziert, gilt es auch angesichts aktueller Entwicklungen zu analysieren.
Johanna Bach hat Soziologie und Philosophie in Frankfurt am Main studiert und promoviert über Die Gefühlswelt des Antisemitismus an der Universität Passau. Sie ist Mitherausgeberin des Quellenbands Vermeintliche Gründe. Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus und des Studienbuchs Soziale Arbeit und Rechtsextremismus sowie Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Artikel.